BiH II | Sarajevo, gefühlt

Sarajevo glüht, es ist unfassbar heiß und doch tragen viele Menschen lange, enge Kleidung und festes, geschlossenes Schuhwerk. Es ist, als gälten die 36 Grad nur mir, nicht ihnen, die das locker wegzustecken scheinen oder gar nicht erst etwas zu spüren bekommen. Mit manchen husche ich, wann immer es geht, auf die Schattenseite der Straße, mehr kann man nicht tun. Immer noch besser als im Winter, wenn der Smog alles vergiftet, denke ich mir. Für mich nur so ein Gedanke, für die Bevölkerung ein hartes Los – oft noch wird mir das so gehen.

Überall wird geraucht, achtlos werden Zigarettenstummel fallgelassen: geschwärztes Ende, gekrümmt, genickt, vergessen. Abends tragen viele Frauen auf hohen Schuhen in schicken Kleidern ihre aufwendig veredelten Gesichter durch die pulsierenden Straßen.

Auch wenn es mich wundert: Ich habe nicht das Gefühl, aufzufallen, bemerkt zu werden, versinke in meiner praktischen Birkenstock-Schlichtheit im Hintergrund. Nur in der touristischen Altstadt sprechen mich Einheimische – natürlich – an: Bonjour, Hi, Guten Tag – und warten, welche Sprache trifft.

Einmal regnet es und mein verbogener Schirm ist Anlass für ein Gespräch. Dass der Schirm aus Deutschland kommt, kann sich der Bosnier nicht vorstellen, wo doch in Deutschland alles perfekt ist. Ich korrigiere: Er kommt aus Frankreich. Wir sprechen Französisch, einfach, weil es sich so ergeben hat. Viele Menschen scheinen andere Sprachen zu sprechen, vielleicht haben die Kriege die Vielsprachigkeit nach Sarajevo geholt.

Einmal spaziere ich abends den Hügel hinauf, Kinder sitzen auf einer Mauer und bewerfen mich mit einer Münze. Sie biegen sich vor Lachen, ich nicht.

Es ist unmöglich, durch Sarajevo zu streifen, ohne die Geschichte mitzudenken, die dem Stadtbild eingeschrieben ist. Die Gebäude tragen die Stempel ihrer Erbauer. Osmanische Bauwerke aus über 400-jähriger Besetzung stehen neben Prachtbauten im historistischen Stil, die während der 40-jährigen Herrschaft Österreich-Ungarns entstanden sind, sozialistische Architektur komplettiert das Bild. Was ist schon schön? Das ist Leben: geschwächt werden, erstarken, sich verändern, zu Boden fallen, wieder aufstehen, grau sein, bunt werden.

Die Minarette der rund 200 Moscheen Sarajevos stechen sprichwörtlich aus dem Stadtbild heraus: Zeugen einer muslimisch-europäischen Kultur, steinweiße, selbstbewusst in den Himmel ragende Antworten auf die Frage nach einem europäischen Islam.

Wo sich die meisten Touristen tummeln – in der Altstadt und am Flussufer – glänzt und glitzert es hier und da. Der Westen wurde dort mit offenen Armen empfangen, die typischen Läden reihen sich aneinander, immer wieder unterbrochen von den unzähligen Kiosken, die für die Bosnier unentbehrlich scheinen.

An vielen anderen Stellen dagegen ist der vergangene Krieg zu sehen: angefressene Fassaden, bröckelnd, wie angenagt. Ob ich will oder nicht: Die Einschusslöcher an den Häuserwänden erinnern mich an Tilsiterscheiben. Dass ich dieses Bild im Kopf habe, macht mir bewusst, wie behütet mein Leben war und ist, wie unwissend ich bin und wie dankbar ich dafür sein sollte. Auch jetzt gibt es keinen Grund zur Sorge: Ich fühle mich keine Minute unsicher in der Stadt.

Es gibt so viel zu entdecken, ich könnte mich tagelang hier bewegen und nur schauen. Ich stelle fest: Verfall sieht anders aus als Zerstörung. Rotes Harz füllt die Granateneinschlaglöcher in den Straßen: Wo vor 25 Jahren Menschen den Tod gefunden haben, blühen heute „Sarajevos Rosen“. Im Unfertigen, im Kaputten liegen alle Möglichkeiten und so viel Raum für Veränderung – auch wenn Zuversicht angesichts der politischen und sozialen Verhältnisse im Land voreilig erscheint.

Einmal verliere ich mich in den Sträßchen auf einem der Hügel, die die Kuhle formen, in der die Stadt liegt. An diesen Hängen kriechen die Häuser hinauf und zerstreuen sich zum Ende hin, wo der Wald sie schließlich empfängt. Dort oben fand ich: Ruhe – und weidende Ziegen. Ein helles Klingeln, das sich unter das leise Dröhnen der Stadt mischt.

Dann komme ich an einem einst stattlichen, jetzt heruntergekommenen Gebäude einer riesigen Musikschule vorbei. Aus den weit geöffneten Fenstern strömen Trompeten-, Geigen-, Klavier-, Flötenklänge und Gesang. Die muntere Mischung klingt noch lange den Hang hinauf, Sarajevo lebt und blüht auf seine Art.

Nach einem Regen spannt sich im Abendlicht ein Regenbogen über der Stadt auf und für ein paar Momente glänzen die Dächer und Türme, biegen sich die Brücken weich über die silbrig glänzende Miljacka. Der wehmütige Gesang der Muezzine hallt wider, über den Straßen bildet sich flauschiger Dunst. Verwundet, aber anmutig wirkt Sarajevo jetzt.

Wie aufregend die Stadt ist, wird mir erst bewusst, als ich am Ende der Reise in Zagreb Halt mache und von der gepflegten, polierten Glätte gelangweilt bin! Manches erhält erst dadurch Kontur, dass es mit anderen Bildern überblendet wird. Aus der Distanz ordnen sich die Dinge.  

Schreibe einen Kommentar