BiH III | Vergangenheitsbewältigung

Der Krieg ist ein Thema. Meine Begegnungen zeigen mir ein vielschichtiges Bild dieser Zeit: Ich lerne Menschen kennen, die sich eine Flucht erkaufen konnten, um danach zurückzukehren und andere, deren Familien bis heute zerstreut leben. Ich spreche mit Menschen, die den Krieg in Sarajevo erlebten oder sich der Militärpflicht strikt verweigerten. Manche haben die Worte über diese Zeit sicher verwahrt, die Erinnerungen für sich und andere unzugänglich gemacht. Selbstschutz, Lebenswille. In Busfahrten in und um Sarajevo blicke ich in Gesichter und Augen, in denen Schwermut lange geweilt haben muss.

Dennoch: Immer wieder habe ich das Gefühl, viele Menschen hier haben sich dafür entschieden, ihr Leben in eine Richtung zu leben – in Richtung Zukunft. So leben die Völkergruppen oberflächlich friedlich zusammen, es erscheint mir angesichts der noch jungen Massengräber wie ein Wunder. Darunter aber gärt und brodelt der nationalistische Sud weiter. Es ist keine Überraschung, denn vordergründig und offiziell wird das Trennende zwischen den Völkergruppen betont: drei offizielle Sprachen, die sich aus sprachwissenschaftlicher Sicht fast gleichen; innere Landesgrenzen mit eigenen Regeln; nach Völkergruppen getrennte Nachbarschaften; die Pflege individueller Narrative für Geschehenes.

Einmal habe ich einen wirren Traum: Überall im Land stehen Hinweisschilder und Gedenktafeln, dazu Menschen, die wie Marktschreier ihre Version der Geschichte kundtun und für die Passantinnen und Passanten Merkzettel austeilen.

Die innere Spaltung geht mir nahe. Ich frage mich, warum es so ist, wie es ist – und ahne leise, warum.

Jemand sagte mir, Sarajevo sei die Naht zwischen Okzident und Orient. Eine Naht, das sind Nadel und Faden, Stiche und Löcher.

Wenn Integration eigentlich Freundschaft ist, was hieße das für so ein schönes Land?

Es sieht aus, als hätte sich die Welt abgewandt, um Verantwortung an das Land zurückzugeben – zu früh? Das familiäre Netz trägt nicht mehr, nachdem der Krieg es durchlöchert hat. Wer herausfällt, landet hart. Kaum jemand ist darauf vorbereitet, allein gelassen zu werden – und hat doch keine Wahl. Auf die wertvollen, aber kleinen Inseln der Hilfsprojekte können sich nur wenige retten.

Immer wieder klingt ein leises Sehnen nach der Zeit vor dem Krieg an, nicht gut, aber besser sei es gewesen. Dass unzählige junge Bosnierinnen und Bosnier das Land verlassen, lässt manche Zurückgebliebenen hoffen, dass diese mit erweitertem Blick und neuen Visionen zurückkommen. Mögen sie von der Zeit recht bekommen.

In der Gallery 11/07/95 verbringe ich einen Morgen. In dem dunkelgrau gestrichenen Hauseingang zum Museum hängt das Foto einer Massenbeerdigung in Srebrenica und schräg gegenüber das Schild einer Zahnarztpraxis: Der Zahn und die Zeit. Löcher und Wunden.  

Ich bin fast die einzige Besucherin im Museum. In den wenigen, unaufdringlichen Schwarz-Weiß-Fotografien von Tarik Samarah konzentrieren sich eindrücklich erdrückend das Leid und der unfassbare Schmerz, an dem ein ganzes Land zu tragen hat. Auf Holzbänken sitze ich mit drei Fremden. Wir schauen die Dokumentar- und Kurzfilme an und weinen. Jeder für sich und doch zusammen, seltsam vereint – schlicht und ergreifend. So still es im Museum war, so laut hallen die Bilder und Worte in mir nach. „Hass macht immer schwach“, bemerkte der Fotograf. “All that is necessary for the triumph of evil is that good men do nothing”, wird Edmund Burke zitiert. Und ich? Die Ausstellung wirft mich zurück auf meine eigene Unvollständigkeit, darauf, dass ich meine moralischen Werte zum Preis der Schwächeren lebe. Was mich frei sein lässt, versklavt andere. Um groß zu werden, müssen andere klein werden. Die Gedanken sind unerträglich, Sarajevo tut weh.

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