BiH V | Alle Farben der Wildnis

Für ein paar Tage reise ich in den Sutjeska Nationalpark im Südosten des Landes. Der Bus öffnet seine Türe am Rande der Straße, widerwillig nur lässt mich der Busfahrer im Nirgendwo aussteigen. So stehe ich dann – auf mich allein gestellt – auf diesen Beinen, die mich und mein ganzes Gepäck tragen werden. Entschieden und zögerlich zugleich wandere ich los in die Wildnis, in einen der letzten Urwälder Europas. Die Sonne brennt, irgendwo rauscht ein Bach, aber eben: irgendwo.

Weil die Via Dinarica, ein Langstreckenwanderweg, der die westlichen Balkanländer durchzieht, durch den Park führt, erwarte ich andere Wandernde und traue mich, allein loszuziehen. Tatsächlich begegnet mir auf dem Weg nach Prijevor nur ein einziges Paar aus Montenegro. Hätte ich das gewusst, hätte ich anders entschieden.

Der Aufstieg auf einem kleinen Trampelpfad im dichten Wald scheint endlos. Ich bin unruhig. Ein Knacksen, Rascheln – tierische Laute? Ich halte inne und erinnere mich, dass alles kann, aber nichts muss. Immerhin Handyempfang, GPS, zumindest hin und wieder. Ich gehe weiter, singe, rede, höre meiner eigenen Angst zu. Baumstämme versperren den Weg, dschungelartig. Klettern, genau hinhören, atmen. Auf dem baumbeengten Weg werde ich klein und kleiner. Ich, allein auf dem Vormarsch durch das Rückzugsgebiet von Bären, Wölfen, Wildschweinen. 20.000 Jahre unbekümmerten Wachsens umgeben mich, Bäume, die zehn Mal älter sind als ich. Es ist, als würden die Baumkronen von oben auf mich herablächeln, nicht ohne Schadenfreude: kleiner, kleiner Mensch. Ich sage mir: Wer sich mit der Natur verbindet, ist nicht allein. Es stimmt nicht. Ich bleibe allein.

Endlich eine Lichtung, Ebene, Touristen, Autos, Kontakt, blühende Wiesen. Ich bin eben doch ein Mensch, losgerissen von meinen Ursprüngen. Als alle nachmittags vom Trnovačko See zurückkommen, breche ich erst dorthin auf und begegne lächelnden, schnaufenden, munteren Menschen. Der Weg ist vielbegangen, allzu menschenberührt sieht er aus. Ungern gestehe ich es mir ein, aber ich fühle mich wohl. Am See grillen, zelten, baden Menschen, am Ufer grasen Pferde. Letzte Sonnenstrahlen retten sich über die Bergkuppen, Schatten, Ruhe, Eintauchen, Fische knabbern an mir. Wie ich wohl schmecke?

Ich laufe zurück zur Hütte, wo mein Gepäck steht und ich schlafen werde und sehe die Sonne untergehen, sehe, wie sie die Pastellfarbpallette nach sich zieht, wie der Mond hinter dem Felsen hervorschlüpft: Schichtwechsel. Würde die Balkanmusik nicht aus dem Handy des Park-Rangers dröhnen, wäre es ganz leise. Ich entscheide mich zu schlafen, oder so zu tun als ob – man weiß nie, was im Schlaf geschieht mit einem Mann, der im Nebenbett Lust hat.

Am nächsten Morgen stolpere ich schlaftrunken mit der aufgehenden Sonne aus der Hütte. Mount Maglić, der höchste Berg Bosniens, ist das Ziel. Konzentriert nähere ich mich dem eigensinnigen Gipfel, Schritt für Schritt. Oben zähle ich Gebirgsschichten in der Ferne: Es sind 9 oder 10! Jede hebt sich aus dem Dunst heraus: mal entschieden scharfzackig, mal baumbewachsen, mal wiesenweich und kantenglatt. Landschaft geschichtet, mit einem Klangteppich belegt: Summen, Krähen, Singen, Klappern, Wehen, Knarzen, Knistern, Rascheln, Pfeifen, Zwitschern. In der Weite wird Einsamkeit nun doch zu Eins-Sein.

Das Gipfelbuch ist wie ein Poesiealbum der Welt: Von überall kommen die Wandernden, bewundern die Aussicht, klagen über den Aufstieg, freuen sich des Lebens.

Ich gehe weiter über die nächsten Bergkämme. Von oben nähere ich mich nochmals dem Trnovačko See, die letzten 500 Höhenmeter abwärts rutschend, auf Stein- und Staubbahnen gleitend versuche ich, mich nicht zu ärgern. Später fallen Blitze weißgold glühend zwischen die Berge im Tal, Regen prasselt vom Himmel, es bleibt heiß.

Ein Auto bringt mich nach Tjentište, von wo ich mit einer Gruppe abends zum wundervoll gelegenen See Donje Bare fahre und anschließend zum Vidikovac Borić laufe. Dort: Grünes Stillleben, still bewegt, durchdrungen vom Dreiklang der Vögel: Uhu, Specht, Kuckuck. Gepolsterte Hügel, wie von Moos bewachsen. Dabei sind es Baumkronen, vom Wind sanft durchraschelt, luftig, weich – man möchte sich darauf betten.

Die Luft wird nicht schwer vom vielen Duft. Vögel durchkreuzen den vom Regen blau gewaschenen Himmel.

Wald quillt zähflüssig über die Kuppen, endet zwischen den Scharten. Ein Baum ist immer der erste oder der letzte des Pulks – mutig, stark, unerschütterlich steht er da.

So viel Kraft, Vielfalt, Standfestigkeit. Ich bin überwältigt, über-welt-igt.

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