BiH VI | Mostar

Früh morgens reihe ich mich am Ticketschalter ein in die Schlange aus Backpackern, Kofferträgern, buddhistischen Mönchen, die alle den einen der beiden Züge nehmen wollen, die täglich Richtung Mostar fahren. Kaum jemand spricht noch die Landessprache(n), ich höre Englisch, Deutsch, Französisch, Chinesisch, Spanisch, Arabisch, Türkisch, irgendwas. Tickets werden handschriftlich ausgestellt, hat was…braucht aber Zeit.

Mein Platz ist bequem, aber es soll noch bequemer werden. „Möchten Sie bitte in die 1. Klasse mitkommen?“, werde ich auf Deutsch gefragt und ja, ich möchte. Touristen werden umschmeichelt, ein wenig schäme ich mich im Liegesessel mit Panoramablick.

Wir schrauben uns dramatisch hinauf auf den Ivanpass und wieder hinab in das Tal der Neretva. In meinen Ohren läuft der hymnische Soundtrack zum grandiosen Stummfilm, der vor dem Fenster an uns vorbeizieht – oder wir an ihm. Ich will keine Stimmen hören, keinen Streit, kein Fotoklicken, kein Lachen. Diese Fahrt will ich akustisch selbst inszenieren, dirigieren.

Es ist wunderschön.

Smaragdgrün gräbt sich die Neretva zwischen den Steinwänden ihr Bett. Göttlicher Fluss, eiskalte Herzschlagader Bosniens, 230 Kilometer purer, klarer Schönheit. Hypnotisiert starre ich auf das Wasser, kann nicht anders als zu lächeln und ertappe mich dabei im Fenster. Eisenbahnromantik.

In Mostar den beginnenden Tag durchschritten, über die von unzähligen Füßen blank polierten Pflastersteine zur weltbekannten Stari Most-Brücke geglitten, bevor die Reisebusse sich vor den Toren der Altstadt entleert haben. Später wird es unerträglich, die Straßen laufen, ja, kochen über. Heimlich stelle ich mich zu den Reiseführerinnen und -führern dazu und lausche der einen und anderen Anekdote. Ich kann nicht umhin, zumindest einen der Brückenspringer verstohlen zu beobachten. Ich bin Touristin, wie alle anderen auch. Aber dann fliehe ich in die Außenbezirke, die Hügel hinauf, wo die besten Backwaren, lange Alleen, bellende Hunde, Graffitis und Ruhe warten.

Morgens sind es schon 35 Grad, es werden über 40 werden – und die Müllabfuhr streikt. Gut so. Und wenn die Müllberge über die Hausdächer wachsen – die Arbeitenden haben recht, finde ich. Im kühlen Rauschen der Neretva finden meine Beine neuen Mut, atme ich auf.

Das blechern schreiende Kind einer Bettlerin in der Altstadt schlägt auf Touristen ein, die Mutter reißt es zu Boden, schlägt auf es ein. Was wird aus so einem Menschen?

Der Bildschirm im Restaurant zeigt in Dauerschleife und in Zeitraffer die Geschichte der Brücke. Entstehung, Zerfall, Zerstörung, zerberstende Hoffnung, Wiederaufbau, Brückenspringwettbewerb, Entstehung, Zerfall, Zerstörung … Erhöhte Bildfrequenz. Erhöhte Schmerzfrequenz. Die Gästeführerin am Tisch neben mir kommt gar nicht nach, das Geschehen im Film zu kommentieren. Manches kann sie nicht mehr anschauen, müde und immer noch getroffen ist sie, aufgerieben statt abgenutzt.

Für mich: alles zu viel, zu laut. Ich bin gefühlt immer auf der Suche nach dem richtigen Maß von Menschheit um mich. Ich entscheide mich, zu gehen, bevor das Gewitter über die Stadt hereinbricht.

Am Bahnhof sammelt ein alter Kleinbus die bettelnden Kinder ein, es sind neun – mindestens. Ein großer Reisebus sammelt mich ein, dankbar steige ich ein.

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