Westjütland: Kindheitstraum im Sehnsuchtsland

Nachdem die sommerliche Reisesituation war, wie sie war, bot es sich an, das im wahrsten Wortsinn Naheliegende in Betracht zu ziehen und mit Aufmerksamkeit zu würdigen – zum Beispiel Dänemark.

Lange, lange hatte ich eine leise Sehnsucht in mir, ohne überhaupt beschreiben zu können, weshalb und woher diese kam. Erinnern kann ich mich noch, dass ich als Kind auf dem warmen Badezimmerboden sitzend dänische Reisekataloge durchblätterte, in denen hunderte, gefühlt tausende ähnlich aussehender Ferienhäuser vorgestellt wurden. Die meisten von ihnen waren in sandige Hügellandschaften eingebettet und versprachen Ruhe, Gemütlichkeit, Weite, Wind und Wellen.

In diese Kindheitssehnsucht mischte sich der lang gehegte Traum, mit Islandpferden am Strand zu galoppieren und so war die Idee geboren. Ich kaufte ein Interrailticket, vergaß den Süden und fuhr zusammen mit meiner Schwester nach Norden, genauer: auf die Kimbrische Halbinsel nach Westjütland.

Vom Willkommen und Sollgehen

In einem Text des Autorenkollektivs Keschmesch über Flucht und Geflüchtete heißt es „Und bleiben wir hier, werden wir wie der Strand: nicht ganz Meer, nicht ganz Land.“ Die dänische Politik gegenüber Asylbewerber*innen zeigt sich zunehmend restriktiv und bietet Geflüchteten kaum Chancen, sich wenigstens in diesem Dazwischen zu integrieren. Erstaunlicherweise scheinen jedoch gerade Urlaubsreisende genau da einen Ort der Ruhe zu finden, sind willkommen, ohne sich verbiegen zu müssen.

Denn so erfrischend offen und direkt die dänischen Menschen uns begegnen, so selbstverständlich scheinen sie uns freizugeben, können die verschiedenen Lebensrhythmen unaufgeregt nebeneinander pulsieren. Und doch bewegt sich alles eher langsam, schließen die Läden früh, fließen die Farben ineinander, ähneln sich die Aussichtspunkte: „Entweder man liebt es, oder man hasst es“, bemerkt eine Stammtouristin.

Westjütland: anders gleich und hausgemacht

Vom bekanntlich wilden Wetter bekommen wir wenig mit, erhaschen eine sonnenverwöhnte Woche, die wir unter stets knallblau aufgespanntem Himmelsdach genießen. Heiß ist es, heißer als üblich, „verdächtig heiß“, stutzen langjährige Urlaubsgäste. Überall entlang der Straßen grasen Pferde, verteilen sich Strandhäuser in den Dünen: alte, neue, mit Reed, Stahl, Gras oder Ziegeln gedeckt, Holz- und Fachwerkfassaden, Fertighäuser, Fischerhütten. In manchen Küstenstädtchen hängt der Fisch- und Meergeruch in der Luft, treiben mit Reusen und Netzen beladene Schiffe vor der Küste, im Glitzerteppich am Horizont taucht ein einsamer Robbenkopf auf. In der Ferne durchschneiden unzählige Rotorblätter die flirrende Sommerhitze, im Landesinnern durchziehen liebevoll angelegte Mini-Alleen wie Äderchen die Felder. Nur kleine Briefkästen mit Zeitungsrohren deuten immer wieder auf Häuser hin.

Kulinarisch treffen wir keine mutigen Entscheidungen, begnügen uns stattdessen mit überzeugender, hausgemachter, meist deftiger Alltagskost: knusprige Fish&Chips und feiner Räucherfisch der Havnen’s Røgeri, cremiges Softeis vom Ishuset ved Henne Strand und sehr geschmackvolle, frisch aus dem sandigen Boden geborgene Petersilienkartoffeln an geschmorten Zwiebeln, Pilzen mit Gemüse und Salaten im Restaurant Stausø. Die Hochblüte unserer Geschmacksknospen erleben wir in der Hansens Bageri in Janderup, einer kleinen, unscheinbaren Bäckerei, die uns mit feinsten Köstlichkeiten überrascht: Marzipantörtchen, Haselnussgebäck, Schokokuchen und Roggen-Sesam-Brötchen.

Irgendwo muss man anfangen

Am ersten Morgen, als die Farben noch schläfrig durch den Nebel schimmern, brechen wir auf Richtung Strand, wo wir die gepflegten Islandpferde des Stutteri Vestmose treffen. Ein Transporter wird sie zum Strand bringen, wo der mehrstündige Ritt stattfindet. Wie Perlen, aufgereiht an durchsichtigen Schnüren, bewegen wir uns dicht am Wellenkamm, mal gemächlich, mal flotter. Das Angebot des von einer Deutschen geführten Hofes richtet sich eher an unsichere Reiter*innen, weil jeder Schritt kontrolliert wird, die Reihenfolge nicht durchbrochen werden sollte und uns kaum etwas davon an Freiheit erinnert. Auf dem mehrere hundert Meter breiten Strand bilden wir eine stets gerade Linie, die sich brav und zähflüssig durch den Sand schiebt – ein guter Anfang, aber uns nicht genug.

100 Hufen, pures Glück

So buchen wir einen Sonnenuntergangsritt beim Nymindegab Riding Center. Durch verwunschene Dünenwäldchen schlängeln sich erst erdige, dann zunehmend sandige Pfade und schnell wird klar, dass hier das Tempo ein anderes ist. Im Schritt, Trab und Galopp wirbeln 20 sattelfeste Reiter*innen Richtung Strand durch abendlichtgefluteten Wald, brechen durch staubzersetzte Lichtstreifen und halten schließlich auf einem Rastplatz kurz vorm Strand.

Zwischen Weißbrotsandwiches und dänischen Keksen vermischt sich zufriedenes Pferdeschnauben mit hellem Lachen, überpinselt mit weichem Abendlicht und der Vorfreude auf das Meer – ein Moment, den wir am liebsten in Marmeladegläser gefüllt und mitgenommen hätten: Wenn alles passt und alles sein darf, wie es ist.

Wenig später stapfen 100 kleine Hufen den steilen Pfad zum Strand hinauf. Oben angekommen liegen Wasser, Strand und Himmel vor uns ausgebreitet, stockt uns der Atem von all der Schönheit, knallen der butterbeige Sand, das Tiefblau des Meeres, die Pastelltöne des Himmels und das orangegoldene Leuchten am Horizont ineinander.

Unten am Strand ahnen wir bereits, was jetzt kommen wird, fühlen, wie die Körper der Pferde durchzuckt werden von Energie. Und ehe wir uns dessen bewusst werden können, zerstäubt die eben noch sorgfältig aufgereihte Linie auf das Kommando der erfahrenen dänischen Guide blitzartig, brechen die Pferde aus, stürzen im Renngalopp nach vorne, bilden wir eine freudige Herde wehender Mähnen, fliegender Hufen und lachender Gesichter. Zurück zum Hof geht es im Licht der untergehenden Sonne durch Schilflandschaften, Wald- und Heidestücke. Unvergesslich waren diese Stunden, vereint sind wir durch das Glück, das uns geschenkt wurde.

Am letzten Tag wählen wir einen Baderitt in Blåvand, sitzen barfuß auf und trotten Richtung Meer. Im Wasser kreist unsere Gruppe, wippen die Pferderücken auf und ab wie im Karussell, manche mutiger, manche vorsichtiger. Bald mischen sich Pferdeäpfel unter das Meerwasser, doch die Begeisterung der Zuschauenden überwiegt. Beschwingt und leicht, mit Salzrändern auf der Kleidung und einer neuen Erfahrung im Gepäck kommen wir zurück.


Einmal Reitermädchen sein, Wettrennen am Strand, Baden auf dem Pferderücken – wie in den kitschigen Büchern und Zeitschriften, in denen wir als Kinder versunken sind – Dänemark hat es uns möglich gemacht und dass es nicht das letzte Mal war, wissen wir sicher.


Anfahrt: mit dem Zug möglich, vor Ort ist es allerdings sehr ratsam, ein Auto zu haben.

Reiten: Bei allen Höfen am besten frühzeitig (ca. 4-7 Tage vorher) telefonisch reservieren. Bei Stutteri Vestmose geht das auch per Mail. Besonders in der Hauptsaison sind die Touren oft schnell ausgebucht.